Die Geschichte eines erfolgreichen Halbmarathon

von Christian Thomas

Einsneunundzwanzigfünfzig - die Geschichte eines erfolgreichen Laufs

Meine Laufsaison hatte drei Ziele: erstens, einen vernünftigen Marathon laufen, schneller als den ersten - das gelang nicht, die Gesundheit spielte nicht mit. Zweitens, die 'Crêtes Vosgiennes' nach 12 Jahren erneut laufen, das hat ganz hervorragend geklappt. Und drittens, entweder die 40:00 oder die 1:30:00 noch mal knacken, diese Baustelle war noch offen..

Saisonhöhepunkte eines Läufers wollen geplant sein, in etlichen Wochen oder Monaten wird auf sie zu geplant und hintrainiert. Gestern ging das ganz anders, ganz schnell: zwischen Planung der Tat und Ihrer Ausführung lagen gerade mal dreieinhalb Stunden.

Ein ruhiges Laufwochenende lag vor mir. Ich würde Christine Hein, die letzte Woche in Lindau nicht starten konnte, bei Ihrem ersten Halbmarathon begleiten. Die Strecke in Offenbach/Queich ist gut zu laufen, das wusste ich von Klaus Schiederer, eine drei mal zu durchlaufende 7-km-Runde, auf der Karte eher ein 7km-Quadrat mit fast kerzengeraden 1,75km-Kanten.

Ein Trainingslauf mit Christine am Mittwoch läuft absolut gut, sie hat überhaupt keine Mühe beim anvisierten Halbmarathon-Tempo (6min/km), die Wettervorhersage für Sonntag - Dauerregen und starker Wind - scheint die einzige Unwägbarkeit. Gut eingelaufen nach den 8km mit Christine gehe ich noch zum Bahntraining ins Schulzentrum, ums Tempotraining drücke ich mich in letzter Zeit eh' viel zu oft. Ich treffe dort Roland Holzapfel, laufe erst alleine 3:55, dann mit ihm 3:44 und 3:37, letzterer für mich einer meiner schnellsten 1.000er je.

Dass meine Ausdauer durch die Bergläufe und gelegentlichen Tempodauerläufe im Training ganz gut ist, weiß ich - aber dass ich 3:37 laufen kann, überrascht mich schon. Ausdauer gut, Tempo gut, nur wie steht es mit der Tempoausdauer? Ich beschließe, auch ohne spezifisches Training, noch einen Halbmarathon zu laufen, 'aus der Hose', eine Woche nach Offenbach/Queich dann in Offenbach/Main, der letzte schnelle 21er in Anfahrtdistanz dieses Jahr, eine flache Wendepunktstrecke am Mainufer.

Am Samstag ruft Christine an. Sie hat sich bei einem letzten ruhigen Lauf vor dem Halbmarathon eine Wadenverhärtung eingefangen, die sie auch im Ruhezustand piesackt, ein Start unter diesen Bedingungen wäre sinnlos. Plan gecancelt, wie schade.

Sonntagmorgen, Aufstehen um kurz nach acht, ein Blick aus dem Fenster, nanu, das sieht ja sonnig aus, kein Regen in Sicht, und die Bäume stehen trotz 'starkem Wind' auch ganz ruhig da. Wie schade, dass Christine sich verletzt hat, die Bedingungen heute scheinen gut. Ich ziehe die Laufsachen an, will um halb neun los zum Lauftreff. Bei den seit meinen früheren Knieproblemen ritualisierten Aufwärmübungen kommt der Gedanke - ich könnte doch.. heute Halbmarathon laufen.. alleine.. Ein Blick ins Internet. Keine Wolke auf dem Regenradar, die Bedingungen sind fast ideal. Dann geht es schnell, Tasche packen, rein ins Auto, um viertel vor neun bin ich auf dem Weg in die Vorderpfalz, Start ist ja erst um 10:20 Uhr.

In Offenbach an der Queich lässt man die Kirche noch im Dorf. Parkplätze 50 Meter vorm Startbanner, die Startgebühr beträgt 7,50 Euro, das Stück Kuchen kostet 80 Cent. Ich treffe Stefan Gries, der mich in seiner ruhigen, überzeugenden Art heißredet: "Christian, diese Strecke ist bestzeitenfähig". Ich ändere den Plan. Aus einem Formbestimmungslauf wird ein Angriff auf die einsdreißig. Schnitt viersechzehn. Normale Straßenlaufschuhe aus, Trailschuhe an.

Seit meiner Kniegeschichte laufe ich in stark gedämpften Schuhen, mit hoher Ferse und entsprechend hoher Sprengung (Gefälle der Innensohle von Ferse zu den Zehen). Die vor kurzem erworbenen, bei den Bergläufen lieb gewonnen Trailschuhe sind weniger gedämpft und fast flach, das erleichtert das Abrollen über die Ferse, lässt einen längeren Schritt zu als beim Straßenschuh, in dem ich mit dem Mittelfuß aufsetzte. Nur hält meine beim weniger 'hochhackigen' Aufsetzten automatisch mehr strapazierte Wadenmuskulatur das aus? Und wie vertrage ich den eigentlich nicht zum Straßenlauf prädestinierten Trailschuh über die lange Strecke?

Die Bedingungen beim Start sind nicht fast ideal, sie sind ideal. 9 Grad plus, kein Lüftchen weht, etwa 200 Starter verteilen sich schnell ohne Gedränge. Dank der Garmin vermeide ich einen zu schnellen Start: nach 300 Metern zeigt die einen 4:06er Schnitt an, ich nehme gleich einen Zahn raus, bin nach 4:11 beim ersten Kilometerschild. Da hat sich das Feld schon sortiert, im ganzen Lauf wird mich nur noch ein Läufer überholen.

Bei km5 laufe ich auf einen Vorderpfälzer auf, ein kurzer Dialog. Ich "Ziel einsdreißig?" - er: "Unter!". Er ist mir einen Tick zu langsam, ich laufe allein weiter. Die erste Runde vergeht wie im Flug, die Strecke ist wirklich sehr, sehr gut, hat außer drei 90-Grad-Knicks absolut keine Hindernisse. Die angeblich 12 Höhenmeter müssen gut auf der Runde verteilt sein.

Bei km8 sehe ich hundert Meter vor mir Michael Glöser, der ist dieses Jahr schon 1:26:06 gelaufen, erschreckter Blick zur Uhr, nein, ich bin nicht zu schnell, Michael scheint keinen guten Tag zu haben.

Im zehnten Kilometer spüre ich erstmals Mühe das Tempo zu halten, dennoch läuft es bisher wie am Schnürchen: 4:11, 4:14, 4:13, 4:14, 4:13, 4:15, 4:13, 4:15, 4:12, 4:16, Durchgangszeit 42:16. Nochmals Blick auf die Uhr bei exakt km10,55: 44:35 - ich habe bei Halbzeit genau 25 Sekunden Vorsprung auf die Marschtabelle.

Doch jetzt ist die Leichtigkeit raus aus meinem Schritt. Ich muss kämpfen, die Wade meldet sich mit sanftem Ziehen. Die Läufer vor mir wollen sich nicht einholen lassen, einzig Michael Glöser kann den anderen nicht mehr folgen, kommt langsam näher. Am Ende der zweiten Runde schließe ich endlich zu ihm auf, da steigt dieser wegen Oberschenkelproblemen aus, ich bin wieder allein unterwegs. Ich werde langsamer, aber die Garmin peitscht mich vorwärts. Während eines Kilometers steht das Rundentempo schon mal bei 4:25, aber bis zum Ende des Kilometers quäle ich mich immer wieder heran und begrenze die Verluste: 4:14, 4:19, 4:18, 4:20, 4:21.

Bei km15 überlege ich kurz: eine mittlere bis hohe 1:30er Zeit scheint es jetzt zu werden, aber ich laufe doch nicht über eine Stunde richtig gut, um dann knapp am Ziel vorbei zu schliddern. Alles oder nichts. Ich wechsele in den Endspurt-Modus. Mit Hechelatmung erzwinge ich eine 4:18 und eine 4:17. Die 12 Höhenmeter habe ich inzwischen auch gefunden. Jeden einzelnen. Noch vier Kilometer bis Buffalo. Die Wade schmerzt.

Dann, nach Ewigkeiten einsamen Kampfes Mann-gegen-Uhr, höre ich rasch näher kommende Schritte von hinten. Der Vorderpfälzer! Ich sehe ihn noch nicht, da ruft er mir schon zu: "Du schnaufsch zu arch. Musch ruichär ausohtme!". Ich gehorche und klemme mich an seine Fersen. Kurz vor km19 muss ich abreißen lassen, aber es springen eine 4:12 und eine 4:16 heraus. Noch fünf Runden um den Platz und mein Ziel ist noch in Greifweite. Jetzt lasse ich mir nicht mehr die Butter vom Brot nehmen.

Ich rechne: für die letzten 1,1km brauche ich maximal 4:50 - wenn ich nach 1:25:10 bei km20 bin, sollte es reichen. Ich überziehe diesen zwanzigsten Kilometer nicht (4:21) und bin nach 1:25:08 am Kilometerschild. Die Strecke ist amtlich vermessen, ich kann mich darauf verlassen, dass das Ziel nicht ein paar Meter zu weit hinten steht. Ich versuche zu beschleunigen, aber nach 300 Metern zeigt die Garmin nur 4:20er Rundentempo an. Ich reiße, ich beiße, ich keule, die Anzeige springt gemächlich zu 4:19 zu 4:18 zu 4:17. Weit nach 1:28:00 biege ich von der Runde Richtung Ziel ab. Wo ist denn dieses olle Queichtalstadion? Die Uhr zeigt schon 1:29:00 und ich sehe nur Hecken, dann geht es sanft ums Eck, und plötzlich bin ich im Stadion, laufe direkt auf die 100-Meter-Bahn, an deren Ende der Ziellappen hängt. Ich sprinte durch bis zum Scanner (sicher ist sicher) und stoppe dann erst die Uhr: 1:29:53. Die Ergebnisliste gibt mir später drei Sekunden Nachlass.

Im Ziel bedanke ich mich in aller Form bei dem Vorderpfälzer Läufer, der mich heute gerettet hat und versuche sanft auszulaufen. Doch dagegen legen die Waden ihr Veto ein: Antraben wird verweigert, mehr als ein 'Ausgehen' ist nicht mehr drin.

Eine Anmerkung: Diese 1:29:50 waren keine Bestzeit für mich, ich bin vor 11 Jahren schon  1:24:19 gelaufen, nach drei Jahren (zu) harten Trainings, die kurz darauf in massive, vermeintlich irreparable Knieprobleme mündeten. Seit meinem sanften Wiedereinstieg ins Volkslaufgeschäft 2008 (Dieter Meixner sei Dank) war es aber mein Wunsch, zumindest die Neunzigminutengrenze noch mal zu unterbieten.

Und: ich weiß auch, dass meine Leistung keine blanke Sensation darstellt. In Offenbach waren gestern 57 schneller und 136 langsamer. Kein Grund, um mit dieser Zeit seitenlang anzugeben. Für mich als Freizeitläufer aber, dem das soziale Miteinander beim Laufen heute mehr bedeutet als ein strammer Trainingsplan, ein hinreichender Anlass zur ausgelassenen Freude!

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