Berlin-Marathon mit Handicap

von Archiv

Jochen Milke begleitet sehbehinderte Läuferin beim Berlin-Marathon  

I had a dream! Ich bin knapp über 40, sehbehindert und suchte eine neue Herausforderung.  Das schicke Motorrad fiel aufgrund meines Sehrestes leider aus, töpfern in der Toskana oder Obertongesänge in Tibet sind nicht ganz mein Stil. Ich wollte einen Marathon laufen und mich dabei sowohl sportlich beweisen als auch meiner Sehbehinderung ein Schnippchen schlagen. So stand ich denn letztes Jahr auf der Marathon-Messe Frankfurt vor den Auslagen zum Berlin Marathon, um mir erste Informationen einzuholen. Zunächst klärte ich den Zielschluss ab, denn als 5:30 h Läuferin wollte ich mir die Schmach ersparen, mit dem Besenwagen gemeinsam im Ziel einzulaufen. Nachdem ich dies ausgeschlossen hatte, interessierte mich die Größe der Kilometermarkierungen, denn mit meiner Sehbehinderung und einem Sehvermögen unter 3 % erkenne ich diese Schilder nur mit viel Glück. Bei entsprechender Höhe und Breite könnte ich sie zumindest identifizieren und mitzählen, wenngleich mir ihre Aufschrift ein gut gehütetes  Geheimnis bleiben würde. Ich fragte also den freundlichen Herrn am Stand nach der Größe der Schilder. Er sicherte mir riesengroße Markierungen zu und zeichnete imposant mit seinen Armen in der Luft. Ich war zunächst beruhigt, obwohl er meine anschließende Frage nach der Größe der aufgedruckten Kilometerzahlen nur mit einem Schulterzucken beantworten konnte. Ich hoffte im Stillen, dass sich Berlin nicht zur Marathonzeit im Wahlkampf befände und meine Kilometermarkierungen in Größe und Höhe mit Wahlplakaten konkurrieren würden. Weiterhin fragte ich den netten Herrn am Stand, wie viele Starter denn gewöhnlich am Marathon teilnähmen. In Anbetracht meines Sehrestes befürchtete ich, dass bei meinem Tempo nicht mehr genügend Läufer auf der Strecke wären, denen ich einfach nachlaufen könnte. So war es meine größte Angst, versehentlich einem jugoslawischen Rentner in Ballonseide nachzulaufen, der sich just am Kiosk mit Bildzeitung und Kippen ausgestattet hatte und auf dem Rückweg zum heimischen Sofa war. Von dieser alptraumhaften Vorstellung konnte mich der Berater am Marathonstand befreien, indem er mich auf die blaue Linie hinwies, die die gesamte Strecke kennzeichnen würde.

Wiederum nagende Zweifel: ist eine blaue Kreidelinie noch sichtbar, wenn bereits 30.000 Läufer darüber gelaufen sind oder es womöglich in Strömen regnet? Der freundliche Herr beruhigte mich erneut und drückte mir eine Stadtkarte mit eingezeichnetem Marathonverlauf in die Hand. Meiner ersten Sorgen entledigt beschloss ich, mich wie ein Profi vorzubereiten. Ich würde die Strecke abschnittweise unter meinem (stark vergrößernden) Lesegerät studieren und plante, die Strecke vorher mit meiner Freundin auf dem Tandem abzufahren. Wäre doch gelacht, ich und einem Rentner nachlaufen. Ha!
Im Januar 2006 haben meine Freundin und ich uns dann ganz mutig zum 33. Berlin-Marathon angemeldet. Im Laufe meiner Vorbereitungen verließen mich meine schon beschriebenen Ängste nicht. Meine Freundin wollte ihren eigenen Marathon laufen und das Bild des Rentners verfolgte mich erneut. Deshalb fragte ich beim Verein Skills 04, der speziell blinde und sehbehinderte Läufer fördert nach einer Laufbegleitung an und lernte auf diesem Weg Jochen Milke von der Running-Abteilung des 1. FC Kaiserslautern kennen.  Für ihn schien es gar kein Problem zu sein, mich als sehbehinderte Läuferin zu begleiten und meinen fehlenden Sehsinn adäquat zu ersetzen. Wir starteten das erste Mal gemeinsam im April 2006 beim Seligenstädter Mainuferlauf. Vorab besprachen wir, wie schnell ich laufen wollte und dass er mir jede Kilometermarke ansagen möge und zwar just im Moment des Passierens. Außerdem müsse er bei der Wendemarke vorauslaufen, da ich nicht erkennen könne, ob wir um die Streckenposten herumlaufen oder vor ihnen wenden müssten und beim Zieleinlauf solle er vor mir laufen, insbesondere wenn dieser in einem Zielkanal endete. Der gemeinsame Lauf lief bestens und ich bin auf geradem Wege unversehrt ins Ziel eingelaufen. Ängste adé, es gibt Jochen!
Zwei Wochen vor dem Berlinmarathon ein zweiter Wettkampflauf über 10 km in Usingen. Jochen und ich waren mittlerweile gut eingespielt, alles klappte viel besser. Bodenunebenheiten und Wellen sagte er mir rechtzeitig an, Kilometer- und Wendepunkte haben ihren Schrecken verloren. Nicht nur mir, auch Jochen muss das gemeinsame Laufen gefallen haben, denn während ich noch haderte, ob ich die 42,195 km überhaupt durchhalten würde und ob ich nicht besser gleich 20 € fürs Taxi einstecken sollte, schlägt Jochen mir vor, dass er mich beim Marathon begleiten möchte. Ich reagiere verhalten, da der Berlin-Marathon seit April bereits Teilnehmerstopp hatte, aber für Begleiter von Sehbehinderten war eine Startnummernvergabe problemlos möglich. Jochen würde zwar nicht in die Wertung eingehen, aber Essen und Trinken an der Strecke sowie der Arzt für den Notfall waren ihm gewiss.
Jochen kam tatsächlich nach Berlin und ich freute mich riesig. Ein ganzes Bündel an Sorgen fiel von mir ab. Ich würde den Getränkestand nicht nur finden anhand der Becher, über die ich knirschend und krachend am Boden stiege, sondern auch das "richtige" Getränk erwischen (und nicht womöglich das Wasser zum Schwämme tunken), ich würde wissen, welchen Kilometer ich gerade passierte, ich würde das Ziel erreichen. Hoffentlich!
Am Sonntagmorgen um 09:25 Uhr ging es los, 25 Minuten nach der Elite. Es herrschte eine tolle Stimmung auf der Strecke! Überall Musik, trommeln, anfeuernde Zuschauer. Wunderbar, aber bei dem Lärm konnte ich nicht kontrollieren, ob meine sprechende Stoppuhr tatsächlich aktiviert war. Die Polarpulsuhr, welche ich nur trage, um mir meinen oberen Schwellenwert zu signalisieren, könnte mir meine Laufzeit ebenfalls ansagen, wenn Polar nur einen Markt darin sähe, Pulsuhren mit Sprachausgabe zu entwickeln (am besten mit blue tooth).

Schade, ich wäre die erste Käuferin! Die Stimmung war riesig. Die Bands konnte ich schon von weitem hören und noch lange, nachdem ich sie passiert hatte. Bis Kilometer 25 lief alles problemlos, dann spürte Jochen seine Wade. Der Marathon war also auch für ihn eine Anstrengung, der er sonst deutlich schneller läuft (Marathon- Bestzeit in 4:12 h). Ich hoffte, dass er durchhalten und ich nicht doch noch dem ballonseidenen Rentner nachlaufen würde.    Ich hatte mir vorgenommen, wenn ich Kilometer 35 erreicht hätte, würde ich bis zum Ende durchlaufen. Als ich diese Marke erreicht hatte, gingen um mich herum schon die meisten und ich überholte sie alle mit meinem kontinuierlichen "Nähmaschinenschritt". Nur noch 2 Kilometer. Jetzt hielt mich nichts mehr. Ich beschleunigte noch einmal und lief zusammen mit Jochen zunächst durchs Brandenburger Tor und schließlich  bei 5:42:20 h durchs Ziel. Ich konnte es nicht glauben, Gänsehaut, geschafft, ein Traum ist in Erfüllung gegangen. Mein Traum! Es heißt, wenn man über 40 ist, muss man sich entweder eine Harley kaufen oder einen Marathon laufen. Da ich von der Harley absolut gar nichts hätte, habe ich mich für den Marathon entschieden und gesiegt.

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